Belohnung für die lange Leidensgeschichte
«Es ist ziemlich über mich hereingebrochen», erzählt der Kölliker Tobias Widmer vom Moment am Sonntag, als er realisierte, dass er am Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest in Pratteln nach dem siebten von acht Gängen bereits kranzsicher war.
«Innerlich habe ich geweint und trotzdem gelacht. Es war ein Gefühlschaos». Verständlich, denn eben hatte er nicht nur die höchste Auszeichnung im Schwingsport erreicht, sondern irgendwie auch die Geister der Vergangenheit besiegt. Die Verletzungsgeschichte des talentierten Schwingers ist lang und hat schon relativ früh begonnen. Bereits 2016 durfte der heute 26-Jährige in Estavayer-le-Lac an einem Eidgenössischen teilnehmen. «Damals war ich noch sehr jung», sagt Tobias Widmer, «in Pratteln habe ich schon gewusst, was mich erwartet. Und trotzdem wurde ich dann überrascht davon, wie nahe mir das Ganze am Samstag beim Einmarsch in die Arena gegangen ist.»
Kreuzbandrisse und Corona
Vielleicht kamen auch Erinnerungen hoch an den ersten Kreuzbandriss im März 2019, oder an das folgende Jahr Reha, oder an das Coronajahr 2020, oder an den Riss des Kreuzbandes des anderen Knies im Oktober 2020. «Ich habe daraufhin das ganze Jahr 2021 verpasst», erinnert sich Tobias Widmer. Und auch dieses Jahr begann nicht viel besser: Im Januar riss sich der HR-Fachmann aus Kölliken die Strecksehne des Fingers. Am Baselländer Kantonalen in Oberwil anfangs Mai fiel er dann unglücklich auf die Schulter und schliesslich erlitt er auch noch eine Rippenverletzung. «Als ich mir kurz vor dem Eidgenössischen dann die Schulter ausrenkte, dachte ich, das darf doch nicht wahr sein», so Tobias Widmer. Doch war die Verletzung diesmal nicht derart schlimm, dass er auf Pratteln hätte verzichten müssen. Trotzdem war eine gewisse Unsicherheit vorhanden, nicht zuletzt, weil er vor dem ESAF nur gerade sechs Schwingfeste hatte bestreiten können. «Ich habe mir dann einfach gesagt: Es beginnen heute alle bei Null. Ich will alles rausholen und kämpfen.»
Und es funktionierte. Im Anschwingen besiegte der Kölliker den Zürcher Roman Schnurrenberger. Im zweiten Gang gab es für Widmer einen «guten» Gestellten gegen den Eidgenossen Erich Fankhauser. Nach dem Mittagessen setzte sich Widmer gegen den Zürcher Remo Ackermann durch und liess in Gang vier dem Eidgenossen Martin Herrsche keine Chance.
Auch der Start in den zweiten Tag gelang dem Modellathleten. Nach dem Erfolg im fünften Gang gegen den Ber- ner Florian Weyermann und einem Gestellten gegen den Seeländer Eidgenossen Florian Gnägi war das Eichenlaub plötzlich greifbar. «Bis zum siebten Gang habe ich keine Sekunde an den Kranz gedacht», sagte Tobias Widmer. Doch auch das Kopfkino machte ihm keinen Strich durch die Rechnung. Im siebten Kampf machte er mit Matthias Herger kurzen Prozess und erreichte damit sein «grosses Ziel». Logisch, dass sein Fazit trotz ab- schliessender Niederlage gegen König Kilian Wenger nach dem Fest äusserst positiv ausfiel: «Ich hatte zwei perfekte Tage mit dem nötigen Wettkampfglück und einer guten Einteilung mit passenden Gegnern», erklärt Tobias Widmer, der neben Athletikeinheiten zweimal pro Woche im Schwingkeller in Aarau trainiert. «Ausserdem genoss ich die Unterstützung meiner Kollegen aus dem Schwingklub Aarau, des ganzen Nordwestschweizer Teams, der Angehörigen und der Fans».
Mit diesen feierte er nach dem grossen Erfolg auch noch in Pratteln – allerdings relativ bescheiden. «Ich hatte es mir ein bisschen feuchtfröhlicher vorgestellt», erklärt Widmer und lacht, «aber es waren dann doch alle sehr müde. Im Zelt der Nordwestschweizer haben wir immerhin auf die grandiose Teamleistung angestossen.»
Schmerzhafte Nachtruhe
Nach 2 Uhr wurde es schliesslich, bis sich Tobias Widmer im Athletendorf zur Nachtruhe begab. «Die Spannung ist abgefallen und ich bin schnell eingeschlafen, obwohl mir alles wehgetan hat», sagt Tobias Widmer, der mittler- weile schon 18 Kränze gewonnen hat. Nach dem ESAF genoss der Kölliker eine Woche Ferien. In der hatte er auch Zeit, die zahlreichen Glückwünsche auf den verschiedensten Kanälen zu beantworten. «Es waren schon sehr viele und ich habe mich über alle sehr gefreut», sagt der 190 cm grosse und 117 kg schwere Tobias Widmer. «Es haben sich sogar die Nachbarn und alte Schulkollegen gemeldet, von denen ich gar nicht wusste, dass sie Schwingfans sind.»