Die Teilnahme bei Olympia muss hart erarbeitet werden
Wie haben Sie von Ihrer Olympia-Selektion erfahren und was hat es in Ihnen ausgelöst?
Aline Seitz: Ich war in Amerika und wollte den Entscheid nicht aus den Medien erfahren. Deshalb kontaktierte ich meinen Trainer. Er rief dann spontan mitten in der Nacht Schweizer Zeit an und verkündete mir die freudige Olympiaselektion. Ich war total happy und obwohl ich mich schon länger mit Olympia befasste, übermannten mich die Emotionen und es gab viele Freudentränen.
Walter Bäni: Bei mir war es ganz anders. Wir hatten einen Schweizer Quotenplatz für das Kilometer-Zeitfahren und zwei Kandidaten. Obwohl ich die klare Nummer 1 war, mussten wir drei Tage vor der Abreise nach Montreal drei Ausscheidungsrennen innerhalb 24 Stunden fahren. Im ersten Rennen verpasste ich den Weltrekord nur um 2/100 und schlug meinen Konkurrenten deutlich. Trotzdem liess uns der Nationaltrainer weitere zwei Ausscheidungsrennen fahren, die ich wieder gewann. Im Anschluss war ich so ausgelaugt, dass ich mich über die Qualifikation gar nicht richtig freuen konnte. Weil das Olympiarennen schon vier Tage später stattfand, wusste ich, dass ich in diesem Zustand nicht um eine Medaille mitfahren konnte, obwohl ich zum Favoritenkreis gehörte. Bis heute finde ich es schade, dass ich deshalb bei Olympia nicht zeigen konnte, was ich kann.
Seit wann existiert der «Olympia-Traum» bei Ihnen?
Aline Seitz: Im Alter von elf Jahren – ich war damals junge Bikerin beim RC Gränichen – sah ich erstmals Olympische Spiele im Fernsehen (Peking 2008). 2016 in Rio sah ich dann, dass auch der Bahnradsport für Frauen olympisch ist und so wuchs der Traum, bei diesem Grossanlass auch Mal dabei zu sein. Für Tokyo 2021 verpassten wir die Teilnahme um einen Platz. Aber nun sind wir dabei und ich freue mich riesig.
Walter Bäni: Im Alter von zehn Jahren (1967) sah ich beim Post vertragen erstmals in meinem Leben ein Rennvelo. Das faszinierte mich so, dass von da an klar war, dass ich Velorennfahrer werde. Ich schwor mir: Du wirst der Beste und gehst für die Schweiz an die Olympischen Spiele. Diese Vision verewigte ich sofort nach dem Post vertragen in meinem Zeichenheft und auch in der Schule erzählte ich meinen Mitschülern immer von meinem Vorhaben. An der letzten Klassenzusammenkunft erzählte mir ein Mitschüler, dass die ganze Klasse jeweils hinter meinem Rücken über mich und meinen Olympiatraum gelacht habe. Nun seien aber alle stolz auf mich und meine Leistungen und dass ich meinen Traum erfüllen konnte.
Haben Sie in der Nacht schon von Olympia geträumt?
Aline Seitz: Ich träume viel vom Sport, den Rennen und dem Velofahren, aber einen speziellen Olympiatraum hatte ich bis jetzt nicht. Kann ja noch kommen (lacht).
Walter Bäni: Das nicht, aber tagsüber dafür um so öfter.
Sind Sie vor den Spielen schon auf der Olympia-Rennbahn gefahren?
Aline Seitz: Ja, wir fuhren vor zwei Jahren die Weltmeisterschaften in Paris. Es ist ein sehr cooles und schönes Velodrom, es ist eines meiner Lieblingsstadien. Es ist riesig und hat viele Zuschauerplätze und immer gute Stimmung.
Walter Bäni: Montreal und die Rennbahn habe ich im Vorfeld nicht gesehen. Ich war ja erst 19 Jahre alt und bin zuvor noch nie in einem Flugzeug gesessen oder habe eine weitere Reise gemacht.
Was hat sich seit der Olympia-Qualifikation trainingsmässig verändert?
Aline Seitz: Nichts, denn ich hatte keinen Plan B. Ich hoffte immer, dass mein Plan A (Olympiaqualifikation) aufgeht. Deshalb trainiere ich so weiter, wie mein Trainerteam und ich es geplant haben. Nun trainiert man halt mit einem grossen Ziel vor Augen und ist bereit auch mehr zu leiden.
Walti Bäni: Am Tag nach den Selektionsrennen, fuhr ich zusammen mit meiner Mutter zu den diversen Ausrüstern in der ganzen Schweiz, um mich einzukleiden und am Folgetag reisten wir bereits mit der gesamten Schweizer Delegation nach Montreal. Da blieb keine Zeit mehr zum Trainieren.
Wie viel und was trainierten Sie alles?
Aline Seitz: Im Durchschnitt sind es zwischen 15 und 25 Stunden pro Woche, es kommt auf den Wettkampfplan oder die Trainingsphase an. 70 % des Trainings absolviere ich auf dem Rad, 25 % ist Krafttraining und 5 % Allgemeines. 90 % des Radtrainings absolviere ich auf dem Rennvelo, dem Bike oder dem Gravel und nur 10% auf der Bahn.
Walti Bäni: Im Winter habe ich gar kein Radtraining gemacht. Ich habe nur Fitness, Schnelligkeit und Ausdauer trainiert. Gezieltes Krafttraining und Fitnesscenter gab es damals noch nicht. Im Frühling war ich jeweils richtig heiss, wieder aufs Rad zu steigen und Kilometer abzuspulen. Die Bahntrainings absolvierten wir alle auf der offenen Rennbahn in Oerlikon, die normalen Trainings auf der Strasse.
Aline Seitz, Sie sind nun am Trainieren in Grenchen auf der Bahn. Wie sieht so eine Woche aus?
Aline Seitz: Diese Woche ist jetzt vergleichsmässig locker. Wir haben zweimal am Tag Training. Wir fahren viel hinter dem Motorrad, damit wir die Renngeschwindigkeit trainieren können. Dazwischen Krafttraining und Einheiten auf dem Rennvelo. Ein guter Mix.
Und wie viele Kilometer gibt das pro Jahr?
Aline Seitz: Das weiss ich nicht genau, ich zähle nur die Stunden und die Wattzahlen. Der Computer zählt die Kilometer.
Walter Bäni: (Holt sein Trainingstagebuch von damals hervor). Bis zum 20. Juli, als ich bei Olympia startete, hatte ich nur 2600 km trainiert. Man muss aber auch wissen, ich war noch Lehrling auf der Bank und arbeitete 100 Prozent. Dafür trainierte ich nie locker, sondern immer «Vollgas».
Wie kamen Sie eigentlich zum Bahnradsport?
Aline Seitz: Ich begann als Mountainbikerin beim RC Gränichen. Mein Trainer Beat Stirnemann schickte mich dann im Winter jeweils am Mittwoch zum Nachwuchsregional- Bahntraining in Grenchen, weil er der Ansicht war, dass ich zu schwere Gänge trete und die Trittfrequenz unbedingt verbessern und erhöhen sollte. Anfänglich ging ich mit Widerwillen doch je länger es dauerte umso lieber war ich auf der Bahn und freut mich riesig auf die Trainings und die Rennen. Man attestierte mir ein gewisses Talent und gleichzeitig baute der neue Nationaltrainer ein Frauenteam auf. Während einer gewissen Zeit fuhr ich Bike und Bahn parallel und entschied mich dann im Vorfeld von Tokio (2021) ganz auf die Bahn zu wechseln. Ich habe es nicht bereut! Swiss Cycling verfolgt nun eine polycyclide Ausbildung in den Nachwuchsaltersklassen. So ist es für die jungen Athletinnen möglich in alle Radsportdisziplinen einzutauchen und sich dann später für eine zu entscheiden.
Walter Bäni: Ich begann – wie zu jener Zeit die meisten Radrennfahrer – mit Strassenrennen und konnte auch etliche gewinnen. Im Winter fuhr ich Radquers und schaffte es bis in die Nationalmannschaft. Dann gewann ich den damals sehr populären Kilometertest auf der Bahn. Ich erkannte, dass ich für die Sprintdisziplinen auf der Bahn am meisten Talent hatte, und blieb dabei.
Haben Sie Vorbilder in dieser Sportart?
Aline Seitz: Auf der Bahn eigentlich nicht. Ich schaue mir von verschiedenen guten Fahrerinnen und Fahren gewisse Dinge ab und versuche sie umzusetzen. Aber ein eigentliches Idol habe ich nicht.
Walti Bäni: Ich bewunderte den Belgier Roger De Vlaeminck. Er war in den 1970er Jahren einer der erfolgreichsten Klassikerfahrer des Radsport. De Vlaeminck sass super-elegant auf dem Rennvelo, ich versuchte immer ihn zu imitieren.
Wie viele Velos haben Sie?
Aline Seitz: In Grenchen habe ich zwei Bahnvelos, die gehören Swiss Cycling und zu Hause habe ich eines das ich selbst bezahlt habe, das ich für private Bahnrennen nutze. Dazu habe ich noch zwei Rennvelos, ein Bike, ein Gravelbike, zwei Citybikes. Man kann nie genug Velos haben (lacht).
Walter Bäni: Als ich erstmals Schweizer Meister wurde, hat sich ein Sponsor gemeldet und mir ein Leibchen sowie ein Bahnvelo zur Verfügung gestellt. Das Velo musste ich am Ende meine Karriere aber wieder abgeben. Das übrige Material kaufte ich selber, Reisen und Unterkunft wurden durch den Schweizer Radsportverband SRB (heute Swiss Cycling) übernommen.
Gibt es jedes Jahr neue Bahnvelos?
Aline Seitz: Nein, das ist auch gar nicht nötig. Weil wir nur in der Halle fahren, ist die Abnützung nicht so gross und man kann die Velos mehrere Saisons fahren. Natürlich wird das Verschleissmaterial ersetzt. Die grossen Änderungen betreffen die Teile, die man noch aerodynamischer machen kann. Vor Kurzen erhielt ich einen neuen Lenker.
Und wer bezahlt das?
Aline Seitz: Der neue Lenker gehört mir, den habe ich selbst bezahlt. Alles was wir am Weltcup fahren, egal ob Gänge, Räder oder die Velos, das bezahlt Swiss Cycling. Wenn ich privat unterwegs bin, bezahle ich das Velo, die Räder oder die Gänge selbst.
Welche Gänge treten Sie?
Aline Seitz: Das ist ein grosses Geheimnis und das verrate ich auch ihnen nicht (lacht). Aber die Übersetzungen sind heute bedeutend schwerer als zu Walter Bänis Zeiten.
Walter Bäni: 51 x 15 lautete damals die Zauberformel, das passte für mich perfekt. Wir fuhren mit einer viel höheren Tretfrequenz als heute (etwa 140 Umdrehungen pro Minute), der Sport hat sich total verändert. Heute wird mit viel mehr Kraftaufwand gefahren.
Wie wurdet Ihr auf Olympia vorbereitet?
Aline Seitz: Ich genoss während meiner Zeit in der Spitzensport-RS (2017/2018) eine Medienschulung, davon kann ich nun zehren. Auf alles andere bereite ich mich mit meinen Trainern und meinem Umfeld vor. Es ist sicher gut, dass ich auf der Olympiabahn schon gefahren bin und gute Erinnerungen an sie habe.
Walter Bäni: Ich wollte ja immer bei Olympia teilnehmen, als ich dann aber vor Ort war, wurde ich förmlich erdrückt von dem was alles auf mich einwirkte. Das Olympiarennen war ja mein erster grosser internationaler Einsatz, ich fuhr zuvor weder EM noch WM noch Weltcup. Für mich waren die Spiele eine Nummer zu gross, die Erfahrung fehlte. Trotzdem genoss ich jeden einzelnen Moment und blieb mit grosser Freude bis zur Schlussfeier in Montreal.
Welche Erwartungen haben Sie an Olympia?
Aline Seitz: Ich möchte meine besten Rennen in Paris abliefern können, dann stimmt es für mich. Für eine Medaille müsste unglaublich viel zusammenpassen, aber es ist natürlich nie ausgeschlossen. Da unsere Wettkämpf gegen Ende der Spiele stattfinden (9. August Madison/11. August Omnium) freue ich mich auch auf die Teilnahme an der Schlussfeier. Ich möchte von den Olympischen Spielen mit einem positiven und glücklichen Gefühl nach Hause kommen, sodass ich den grössten Sportanlass für immer in freudiger Erinnerung mit mir tragen kann.
Walter Bäni: Als ich den Weltrekord nur um 2/100 verpasste, war mir klar, dass ich um eine Medaille fahren kann. Im Olympiarennen war ich eine Runde vor Schluss noch auf Silberkurs, doch dann ging ich aufgrund der grossen Müdigkeit nach dem ungewöhnlichen Ausscheidungsverfahren förmlich ein. Ich wurde Achter. Damals bekamen nur die ersten Sechs ein Diplom (heute die ersten Acht) und so habe ich auch dieses verpasst.
Auf was freuen Sie sich am meisten?
Aline Seitz: Auf die Olympiarennen, das ganze Drumherum im olympischen Dorf und dass ich nun Teil des grössten Sportanlasses der Welt sein darf. Ich nehme mir ganz fest vor, dass ich es wirklich geniessen und in mich aufsaugen möchte.
Walter Bäni: Natürlich wollte ich schnell fahren, doch ich wollte die Spiele auch geniessen. Zu meiner Zeit lebten noch alle Athleten während fast drei Wochen zusammen in einem Olympischen Dorf und dort traf man sich in der Kantine zum Essen oder um zusammen zu sein. Einmal sass ich dem 100-Meter-Sprint-Olympiasieger Hasely Crawford aus Trinidad und Tobago gegenüber. Es war noch ein richtiges «Fest der Sportjugend». Nach meinem Wettkampf konnte ich in Montreal bleiben und nebst der Eröffnungs- auch an der Schlussfeier teilnehmen.
Welche Tipps geben Sie Aline Seitz mit für Olympia?
Walter Bäni: Konzentriere und bereite Dich vor wie immer. Stelle Dir vor, Du startest zu einem Clubrennen und nicht zum «Rennen Deines Lebens», denn das erdrückt Dich sonst und schafft unnötige Nervosität. Versuche nichts Neues kurz vor dem Rennen und geniesse es in vollen Zügen! Es ist am Ende nur ein Velorennen …
Interview: Raphael Nadler
Walter Bäni
Geburtstag: 17.2.1957
Wohnort: Schöftland
Club: Als Aktiver beim VC Pfaffnau
Hobbies: Velofahren, Lesen, Wohnmobil, meine Katzen
Erlernter Beruf: Bankangestellter, danach Journalist
Heutiger Beruf: seit 17.2.2022 glücklicher Pensionär
Grösster sportlicher Erfolg: Weltrekord über 1 km nur um 2/100 verpasst.
Grösstes sportliches Ziel: Olympia-Medaille 1976, leider nicht erreicht. Rang 8 am Ende.
Das mag er nicht: Regenwetter, Egoisten, Rosenkohl
Das mag er: Gesund sein, meine selbst gekochten Spaghetti, Musik von Reinhard Mey.
Webseite: keine
Aline Seitz
Geburtstag: 17.02.1997
Wohnort: Buchs AG
Club: RC Gränichen
Hobbies: Torten backen, ausruhen, Musik hören
Erlernter Beruf: Bachelor BSc Psychologie
Heutiger Beruf: Sales Q36.5 Flagship Store Zürich
Grösster sportlicher Erfolg: Scratch Weltcupsieg, Minsk (BEL) 2017; Nummer 2 World Ranking Scratch Saison 2017/2018; 3. Rang Madison Nations Cup St. Petersburg (RUS) 2021; 3. Rang Team Pursuit Nations Cup St. Petersburg (RUS) 2021; 4. Rang Omnium Weltcup und 4. Rang Madison Weltcup, Hong Kong (HKG) 2024
Grösstes sportliches Ziel: Olympia 2024
Das mag sie nicht: Autobahn-WCs, krank oder verletzt sein, Meeresfrüchte, mehr als 10 Minuten gehen oder stehen, Flugzeugessen
Das mag sie: Schoggi, aufgestellte Menschen, das Singen von Vögeln, lange Entdeckungsfahrten mit dem Rennrad, Aerodynamik, Holunderblütensirup von Mami, Vermicelles, die hellgrünen Bäume im Frühling, frischgebackenes Brot (und Kuchen), heisse Schoggi im Winter, Menschen mit einer riesigen Passion für etwas, Käse, Bergwelt, Rückenwind,
Webseite: www.alineseitz.ch