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Edith

Der Radiomoderator sagte gerade: «Und dieses wundervolle französische Chanson hat für uns der Spatz von Paris, Edith Piaf gesungen.» Da war er, der Name «Edith»!

Lebenslang lösen Namen in uns unwillkürlich ein Gefühl aus. Manchmal ein gutes, manchmal ein schlechtes. Meist geht das zurück bis in die Kindheitstage. Die erste Person, die man kennenlernt, prägt mit ihrem Namen das Empfinden, das man gegenüber diesem Namen hegt.

Es gibt Vornamen, bei denen man beinahe dahinschmilzt, und es gibt solche, bei denen sich einem sogleich die Nackenhaare sträuben. Während Marta meine Knie weich werden lässt, Roland mir ein Lächeln ins Gesicht zaubert, treibt Edith mir den Angstschweiss auf die Stirn. Edith, der Schrecken meiner Kindergartentage! Ein Jahr älter als wir alle, einen Kopf grösser und massig gebaut. Ich mag ja Mädchen, die sich nicht alles sagen lassen, aber bei Edith kam es nicht darauf an, ob man überhaupt etwas sagte, sie vermöbelte mich und meine Freunde regelmässig auch ohne Grund auf dem Pausenplatz. Wenn dabei der Znüni des Opfers zurückblieb, behielt sie diesen als Trophäe. Ich weiss nicht, wie man diese Auffälligkeit heute benennen würde, aber Edith hatte definitiv viel davon.

Keine Ahnung, wie viele wundervolle Ediths ich in meinem Leben kennenlernen müsste, bis dieser Namen seinen angsteinflössenden Charakter für mich verliert.

Gnädigerweise trennte das Schicksal unsere Wege für die weiteren Schuljahre. Es wäre ja auch zu peinlich gewesen, in der Berufsschule noch immer von Edith verprügelt worden zu sein. Ich habe den Namen «Edith» gar einmal im Vornamen-Lexikon nachgeschaut. Da steht, dass der Name aus dem Altenglischen komme und «die vermögende Kämpferin» bedeute. Eine Kämpferin war diese Edith ohne Zweifel, aber ob sie mit erbeuteten Kindergarten-Pausenbrötli auch den Grundstein für ein Vermögen legen konnte?

Ich habe nie wieder etwas von Edith aus meinen Kindergartentagen gehört. Ich bin mir jedoch sicher, hätte sie im Chindsgi schon französisch gekonnt, sie hätte beim Jungsverdreschen wie Edith Piaf auch mit Inbrunst «Non, je ne regrette rien!» gesungen.