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Liebgewonnene Gewohnheiten

Stellen Sie sich vor, Sie dürften ab morgen keinen Kaffee mehr trinken, oder sämtliche Bäckereien hätten geschlossen. Oder das Radio würde ab sofort keine Musik mehr senden. Das Internet wäre gelöscht, aus der Steckdose käme kein Strom mehr und Sie dürften keine Steuern mehr bezahlen. Na gut, mit der Schliessung des Steueramts könnte ich gut leben, aber alle anderen Sachen, an die ich mich gewöhnt habe, möchte ich bitteschön behalten. Volle Gestelle im Laden, Öffnungszeiten wie im Paradies, mobile Freiheit bis zum Gehtnichtmehr – man schätzt es kaum noch. Nennen Sie mich altmodisch, aber auch der Gang zum Briefkasten gehört zu meinen liebsten Ritualen, genau so wie das Schauen der Tagesschau um 19.30 Uhr und das Hören des «Schreckmümpfelis» am Mittwochabend. Und zwar nicht in einem Replay- oder Streaming-Kanal, sondern so richtig live.

Liebgewonnene Rituale, man darf sie uns nicht streitig machen. Sie nehmen uns an der Hand, verleihen dem Tag eine gewisse Ordnung und wirken homöopathisch beruhigend. Auch Das Surren der Kaffeemaschine, der gelegentliche Blick in den Kühlschrank oder das Buch am stillen Örtchen. Manchmal passiert es, dass ich wochenlang die gleichen Musikstücke höre, oft mehrmals hintereinander. Rituale schenken dem Leben eine willkommene Ruhe und auch etwas Trost, weil der Tag abseits der Gewohnheiten so schrecklich schrecklich war. Stellen Sie sich vor, der FC Aarau würde seine Heimspiele fortan im Tessin austragen oder das gemeinsame Mittagessen mit der Familie entfiele dauerhaft, oder der Landanzeiger läge Ende Woche nicht mehr im Briefkasten!

Ein Leben ohne Landanzeiger? Ein tiefer Schlund würde sich öffnen, das Raum-Zeit-Kontinuum geriete aus dem Lot. Ohne die gewohnte Wochenzeitung würde etwas fehlen, die Woche wäre nicht komplett. Man würde tagelang in der ganzen Wohnung herumirren, verzweifelnd suchend, finden Sie nicht auch? Das sage ich nicht, weil ich nun regelmässig für diese Zeitung schreiben darf, sondern weil ich damals als Pöstler in Suhr gelernt habe: Bankbriefe und Rechnungen kann man auch mal dem Nachbarn bringen, aber den Landanzeiger vergessen – das geht gar nicht! Denn: Wir Menschen mögen was wir haben. Natürlich ändert sich immer mal etwas, das ist auch gut so. Doch vieles darf auch bleiben, wir müssen es nur wieder zu schätzen lernen.

Remo Conoci, Redaktor