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«Papi, wir sind total verloren!»

Unsere Kinder haben richtige «Rabeneltern». Diese zwingen sie, einen grossen Teil ihrer Ferien auf den verschiedensten Campingplätzen unseres Landes und im Wohnwagen zu verbringen. Und auch in den Skiferien gibt es nur eine sehr spartanisch eingerichtete Ferienwohnung.

Als unsere Familie heuer erstmals eine kleine Dachwohnung eines traditionellen Walliser Holzchalets bezog, stellten die Kinder schnell fest: Es fehlt ein Fernseher, es fehlt eine Geschirrwaschmaschine und — für sie das Allerwichtigste — es fehlt an Internet und WLAN. Meine Tochter stellte sich daraufhin demonstrativ mit verschränkten Armen vor mich, legte ihre Stirn in Falten und zog eine «Schnute». Dann drückte sie auf die Tränendrüse und sagte mit zittriger Stimme und ernster Mine: «Papi, wir sind total verloren!»

Ich musste mich gehörig zusammenreissen, dass ich keinen Lachanfall bekam. Gleichzeitig machte es mich aber auch traurig. Während Kinder in anderen Ländern kein Dach über dem Kopf haben, Hunger leiden und vor dem Krieg flüchten müssen, fühlen sich unsere Kids nur schon ohne WLAN «total verloren».

So schlimm wie von den Kindern anfänglich angenommen waren die internetfreie Wohnung und die Skiferien in den Bergen dann aber doch nicht. Es war sogar richtig angenehm und erholsam. Endlich hatte die Familie wieder einmal Zeit, gemeinsam Karten zu spielen. Gemeinsam zu würfeln. Gemeinsam den Abwasch zu erledigen oder richtige Postkarten zu schreiben. Und auch einfach rumhängen und Mal nichts tun war plötzlich möglich.

Ohne Internet mussten unsere Kids – die ihr Handy-Prepaid-Abo selbst berappen müssen – die Ferien aber nicht verbringen. Denn Not macht erfinderisch. Innert kürzester Zeit fanden sie mehrere Hot Spots im Skigebiet, an denen sie beim Anstehen am Sessellift noch kurz eine WhatsApp-Nachricht oder ein Ferienbild verschicken konnten.

Bleibende Schäden hat der geringere Handy-Konsum in den Sportferien keine hinterlassen. Unsere Kids jedenfalls wollen auch im nächsten Jahr wieder in dieselbe Wohnung auf der Bettmeralp. Und dies im Wissen, dass in der Zwischenzeit bestimmt kein WLAN eingebaut wird.
Raphael Nadler, Chefredaktor

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