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Plötzlich ohne Strom und Wasser

Letzte Woche waren wir zu Hause unerwartet ohne Wasser und ohne Strom. Der Nachbar konnte nicht helfen. Ohne Strom keine Klingel. Der Akku-Stand auf dem Handy war bereits unter 40 Prozent. Vorsorglich holte ich Zündhölzer, Kerzen und einige Flaschen Mineral aus dem von meiner Frau vorbildlich angelegten Notvorrat. Nun fläzte ich mich aufs Sofa. Nach zwanzig Minuten hatte mein Kopf genug von dieser Ruhe: Was, wenn das kein temporärer Ausfall ist?

Das Kopfkino startete: Der Kühlschrank bleibt stumm, die Heizung kalt, das Badezimmer nutzlos. Im Tiefkühler taut alles auf, der Volg unten an der Strasse ist geschlossen, die Bank auch, der Bankomat lahm. Das Handynetz ebenfalls. Der Polizeinotruf ständig besetzt. Ich malte mir weiter aus, wie das Leben ohne Wasser und Strom wohl in den nächsten Tagen aussehen könnte: Keine Möglichkeit zu kochen oder Geschirr zu spülen. Selbst ein simpler Tee wird zur Luxusware. Duschen? Vergiss es. Das Toilettengeschäft? Ein echtes Abenteuer. Und erst die Abende: Kerzenlicht – zwar romantisch, aber unpraktisch, wenn es darum geht, im -Dunkeln im Kühlschrank noch etwas Essbares zu suchen.

Wie würden sich die Menschen verhalten, wenn diese Situation tagelang anhielte? Plündereien in Supermärkten, das verzweifelte Horten von Wasserflaschen, Konserven und WC-Papier, so wie zu Covid-Zeiten? Alle sind plötzlich in Not, keiner vorbereitet. Wie würde ¬unsere Gesellschaft reagieren? Würden wir solidarisch zusammenhalten oder doch dem Egoismus verfallen?

Meine Gedankenwelt wich nach und nach einer unangenehmen Erkenntnis: Für viele Menschen auf der Welt ist das, was ich als Endzeitszenario durchdachte, Alltag. In armen Ländern, in Regionen, die von Krieg und Krisen heimgesucht werden, ist der Mangel an Wasser und Strom nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Dort geht es nicht um Komfort, sondern ums nackte Über-leben. Kein Strom bedeutet dort nicht, dass der Fernseher ausbleibt, sondern dass lebensnotwendige medizinische Geräte nicht mehr funktionieren. Kein Wasser bedeutet nicht, dass der morgendliche Kaffee fehlt, sondern dass die Grundversorgung zusammenbricht.

Diese zwei Stunden ohne Wasser und Strom waren nicht die Katastrophe, die ich mir in meinen Fantasien ausgemalt hatte. Doch sie zeigten mir, wie schnell man in einer privilegierten Welt die Bodenhaftung verlieren kann – und dass viele Menschen Tag für Tag mit weitaus schlimmeren Herausforderungen zurechtkommen müssen. Raphael Nadler