
Von Sugus bis Scampi
«Bist du das Sugus?» So hatte mich schon lange niemand mehr genannt. Die Frau neben mir auf dem Perron grinste mich breit an. «Saskia?» fragte ich unsicher. «Genau – so schön, dich zu sehen, das muss Jahrzehnte her sein!» Da hatte sie recht, nach der Schule hatte sich unsere Klasse mehr oder minder in alle Himmelsrichtungen zerstreut. Zwar gab es hin und wieder zaghafte Versuche für Klassentreffen, die sich aber aus irgendwelchen Gründen immer wieder zerschlugen.
Der Zug fuhr in den Bahnhof, wir stiegen beide ein und fanden einen Sitzplatz. «Hast du noch Kontakt mit Didl und Fidel?», platzte Saskia heraus. «Nein, tut mir leid, die habe ich vom Radar verloren», antwortete ich wahrheitsgemäss. Lustig, die Spitznamen von damals waren immer noch präsent. Der Name Sugus war mein Pfadiname, der von der ganzen Klasse übernommen worden war. Didl hiess eigentlich Dieter und Fidel hiess korrekt Roland, aber sein Vater hiess Fidel und irgendwann nannten ihn einfach alle so. Alle in unserer Klasse hatten einen Übernahmen, ausser Kurt. Der war zwar ein Löli, trotzdem nannten ihn alle Kurt.
Unterwegs erzählten wir, wie es uns über die Jahre im Leben ergangen war. Klassische Durschnittlebensläufe mit den üblichen Irrungen und Wirrungen, nichts wirklich Wildes. Saskia lebte nun in Frankreich, wie sie mir erzählte.
«Und was ist mit Scampi?», fragte ich. Alessandra Camperini, die einzige Italienerin in unserer Klasse – von allen nur «Scampi» genannt. Saskia und Scampi waren dicke Freundinnen während der ganzen Schulzeit. «Nein, auch sie habe ich komplett aus den Augen verloren», sagte Saskia. Wir witzelten darüber, dass Scampi wahrscheinlich einen Luigi getroffen und jetzt fünf Bambini hatte. Sicher war sie eine richtige italienische Mama geworden.
«Ui, entschuldige bitte, hier muss ich raus – fast hätte ich es verpasst.» Der Zug hatte bereits angehalten und die Leute strömten raus. Saskia packte hektisch ihre Sachen zusammen. «Lass uns mal telefonieren», rief Saskia über ihre Schulter in meine Richtung, während sie zum Ausgang hetzte. «Klar – mach ich!», rief ich ihr nach.
«Saskia» hatte ich sie genannt. Auch sie hatte in der Schule einen Übernamen. Aber irgendwie passte «Sack» bei ihr als Name einfach nicht mehr.
Ich werde sie wahrscheinlich nun weitere 20 Jahre weder sehen noch hören: Wir hatten während des ganzen Gesprächs weder Adressen noch Telefonnummern ausgetauscht …